Wie wird sich das juristische Lernen durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) verändern? Christian Leupold-Wendling und Dr. Carl-Wendelin Neubert geben einen spannenden Einblick in eine Zukunft, in der Künstliche Intelligenz möglicherweise nicht nur Rechtsfragen löst, sondern auch die nächste Generation von Juristen und Juristinnen ausbildet.

1. Warum uns exponentielle Entwicklungen jedes Mal überraschen und was wir daraus lernen sollten
Dem menschlichen Gehirn ist es fast unmöglich, sich exponentielles Wachstum vorzustellen. Beispiel gefällig? Schätzen Sie den Unterschied in der Entfernung zwischen 30 linearen und 30 exponentiellen Schritten (à 1 Meter).[1] 30 lineare Schritte bringen Sie 30m voran: 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 … = 30. 30 exponentielle Schritte hingegen über 1 Mrd. Meter: 1 + 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + … >1 Mrd. Selbst wer diese Kalkulation im Kopf durchführen kann, wird sich die Distanz nicht vorstellen können. Tatsächlich entspricht sie etwa 25 (!) Spaziergängen rund um die Erde. Was bedeutet das? Dass wir damit rechnen müssen, dass uns exponentielle Entwicklungen immer irgendwie überraschen.
Wie fühlt es sich an, auf einem Graphen zu stehen, der kurz davor ist, sich exponentiell zu entwickeln? Ganz normal! Man weiß ja nicht, was kommt (Graph links). Wenn man die zukünftige Entwicklung hingegen kennen würde, würde sich der eigene Blick nicht mehr nach vorne, sondern quasi vertikal nach oben richten (Graph rechts).
Bei künstlicher Intelligenz kommt erschwerend hinzu, dass diese Technologie nicht dem klassischen Moore‘schen Gesetz folgt, nach dem sich die Komplexität von Transistoren jeweils in einem Zeitraum von 12-24 Monaten verdoppelt (d. h. Faktor 2x, in drei Jahren macht das Faktor 6x). Die Parameter-Kapazitäten von Large Language Modellen wie GPT/ChatGPT hingegen hat sich innerhalb von drei Jahren verfünfzehntausendfünfhundertfacht (als Zahl: Faktor 15.500x)![3]
Bei einer so gewaltigen Entwicklungsgeschwindigkeit fällt jeder Ausblick auf die Zukunft schwer. Es besteht immer das Risiko, nicht nur ein bisschen, sondern fundamental danebenzuliegen. Die Zahlen oben verdeutlichen, dass dabei die Wahrscheinlichkeit viel größer ist, die Entwicklung dramatisch zu unterschätzen als sie zu überschätzen.
Für die möglichen Auswirkungen von generativer KI auf die Wirtschaft insgesamt und die juristische Profession im Besonderen gibt es einige namhafte Prognosen/Studien, die Orientierung bieten:
- McKinsey schätzt, dass generative KI bis 2030 ein weltweites GDP-Wachstum von 2,6 bis 4,4 Billionen USD bewirken könne[4] – das entspricht etwa dem Bruttosozialprodukt von Deutschland (4,3 Billionen USD);
- Accenture geht davon aus, dass KI der Haupttreiber von Produktivität und Wachstum wird und z. B. für Deutschland bis 2035 ein Wirtschaftswachstum von 1,6 zusätzlichen Prozentpunkten bringen wird (zusätzlich zu der geschätzten Baseline von 1,4 Prozentpunkten), d.h. mehr als eine Verdoppelung;[5]
- ChatGPT (mit dem Davinci-003-Alpha Modell) hatte beim amerikanischen Bar Exam noch 49,2% der Aufgaben richtig gelöst. Das neueste Modell GPT-4 hingegen löst 75,7% (!) der Aufgaben richtig und liegt damit bereits 7% über dem Durchschnitt aller menschlichen Teilnehmer:innen.[6]
Doch welche Auswirkungen wird generative KI für die juristische Aus-, Fort- und Weiterbildung, insbesondere in Rechtsanwaltskanzleien, haben?
2. Bislang der heilige Gral: individuelle Betreuung
Vor fast 40 Jahren hat der Bildungspsychologe Benjamin Bloom festgestellt, was heute als „2-Sigma-Problem“ bezeichnet wird: Bloom fand heraus, dass durchschnittliche Schüler:innen, die individuell unterrichtet wurden, zwei „Standardabweichungen“ (= 2 „Sigmas“) besser abschnitten als in einem Klassenzimmer unterrichtete Schüler:innen. Zwei Standardabweichungen genügen, um die Testergebnisse einer Person von der 50. auf die 98. Perzentile anzuheben. Oder anders formuliert: Eine durchschnittlich Lernende, die individuell betreut wird, schneidet besser ab als 98% der Kontrollgruppe ohne individuelle Betreuung. Das entspräche in einer juristischen Prüfung der Note „gut“ oder besser. Mit anderen Worten: Wenn wir alle Jurist:innen mit einer geeigneten 1:1 Betreuung aus-, fort- und weiterbilden würden, hätten wir nur noch exzellent ausgebildete Jurist:innen. Juristisches Lernen würde besser, schneller und angenehmer werden und häufiger zum gewünschten Ergebnis führen.
Aber nicht jeder hat Zugang zu einer persönlichen Professorin, einem privaten 1:1-Repetitor oder einer Anwältin, die Grundlagen, Methoden und Rechtsprechungsänderungen individuell auf den jeweiligen Kenntnisstand, das Lerntempo und andere persönliche Besonderheiten zuschneidet. Das ist vor allem eine Kostenfrage – sowohl individuell als auch gesamtgesellschaftlich. Das ist auch bei Kanzleien so: Selbst diejenigen mit dem größten Fokus auf Weiterbildung und dem größten Budget dafür, leisten sich keine 1:1 Betreuung für die Aus-, Fort- und Weiterbildung ihrer Talente und Mitarbeiter:innen. Sie greifen traditionell auf Gruppen-Seminare von Repetitorien zur Unterstützung der Examensvorbereitung ihres juristischen Nachwuchses zurück, und finanzieren ihren Anwält:innen Gruppenunterricht in Fachanwalts- und Weiterbildungsseminaren.
Zugleich steigt in Anwaltskanzleien der Bedarf an guter Aus-, Weiter- und Fortbildung. Bei angehenden Jurist:innen ist für die Frage, in welcher Kanzlei sie Praktika oder ihr Referendariat absolvieren sollen, längst ein entscheidender Faktor, in welchem Umfang die Kanzlei sie bei ihrer Vorbereitung auf das Erste und Zweite Staatsexamen unterstützt. Berufseinsteiger:innen halten es – neben Gehalt und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – zunehmend für entscheidend, welche Möglichkeiten der individuellen Fortentwicklung und Weiterbildung Kanzleien anbieten und wie modern die technische Ausstattung ausfällt.
3. Digitalisierung ist die halbe Miete
Digitale Lernanwendungen konnten bislang eine hervorragende Lehrerin nicht ersetzen, aber einige ihrer Qualitäten replizieren. Digitalisierung wird häufig als Treiber der „Dritten Industriellen Revolution“ bezeichnet, nach der Dampfmaschine und der Elektrifizierung. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Lernen sind bereits seit Jahren beeindruckend, werden aber immer noch viel zu häufig unterschätzt.
Dabei hat die Lehr-/Lernforschung die Auswirkungen digitalisierter Lernsysteme auf den Lernerfolg längst nachgewiesen: Direktes Feedback, Hilfestellungen und Erläuterungen, Partizipation der Lernenden (aktives Lernen), Optimierung der Lernzeit (Engagement /Gamification) und kooperatives Lernen sind geeignet, die Sprünge an „Standardabweichungen“ hervorzurufen. Digitalisierte Lernmittel verbessern Lernleistungen und Motivation der Student:innen durch den gezielten Einsatz automatischer Feedbacksysteme[7] und Gamification.[8] Digitalisierte Lernmittel können durch aktives Lernen kognitive Fähigkeiten aktivieren[9] und mit Wiederholungsmechanismen das Langzeitgedächtnis stimulieren.[10]
Für Sprachlernapps etwa ist bereits gut dokumentiert, wie wirksam die Lernmethoden sind: 30 Stunden Lernen mit Babbel oder Duolingo ist so effektiv wie ein Hochschulsemester Spanischunterricht.[11] Für die Medizin-App AMBOSS haben Wissenschaftler:innen nachgewiesen, dass ein positiver Zusammenhang zwischen der Nutzung der App und der Examensnote besteht.[12]
Aber klar war allen Beteiligten bislang auch: Diese Art von Anwendungen ersetzen keine persönlichen Tutor:innen. Sie ergänzen sie nur, indem sie versuchen, einige wichtige Eigenschaften guter Lehrer:innen zu simulieren und Sprünge an Standardabweichungen hervorzurufen.
4. Künstliche Intelligenz entwickelt sich zum
persönlichen Tutor
GPT-4 schnitt im März 2023 bereits besser ab als durchschnittliche Jurist:innen beim Unified Bar Exam in den USA. Es ist nicht schwer vorstellbar, dass generative KI in absehbarer Zeit zu zahlreichen Rechtsfragen bessere und schnellere Arbeitsergebnisse produzieren wird als 80-90% der Anwält:innen. Gleichermaßen ist nicht schwer vorstellbar, dass generative KI in der Vermittlung juristischer Fachkenntnisse bald besser sein könnte als 80-90% der juristischen Tutor:innen.[13] Das hätte zur Folge, dass generative KI unsere Jurist:innen noch besser ausbilden würde, als dies bei einer vollständigen 1:1-Betreuung der Fall wäre. Das würde die Lernenden über die 98. Percentile heben (d.h. die Bloom‘schen zwei Standardabweichungen sprengen).
Wie könnte das genau aussehen? Die Rolle von künstlicher Intelligenz im Lernprozess zeichnet sich bereits ab. Zunächst begannen Lernende, eigene Prompts an ChatGPT zu schreiben, die einfache Fragen zu einer Vielzahl von Themen beantworten können. Ein nächster Schritt sind hochentwickelte Algorithmen, die die Fähigkeit besitzen, auf personalisierte Art und Weise zu unterrichten. Sie können Lernmaterial auf den individuellen Lernstil, das Wissensniveau, das Lerntempo und die Interessen der Lernenden zuschneiden. Indem sie die Schwächen und Stärken eines jeden Lernenden identifizieren, können sie personalisierte Feedbacks und Lernpfade bereitstellen, die darauf abzielen, diese Schwächen zu beheben und die Stärken weiter zu auszubauen. Diese Algorithmen werden zunehmend in bestehenden Lernsystemen eingesetzt, weil dies ein spezifisch auf die Lernbedürnisse zugeschnittenes Interface und eine dafür optimierte user experience ermöglicht, die dem Lernprozess besser dient als ein rein text-basiertes Interface wie bei ChatGPT.
Führende Lern-KIs berechnen in mehreren Dutzenden Dimensionen (sog. „embedding“) die persönlichen Fähigkeiten einer jeden Lernenden, können die Wahrscheinlichkeit vorhersagen, bestimmte Lernthemen zu beherrschen und passen diese Berechnungen kontinuierlich im Laufe des Lernprozesses an. Dieser Ansatz lässt sich gleichermaßen auf die juristische Ausbildung übertragen: Angewandt auf Jura bedeutet das eine Art „Mapping“ oder „Clustern“ von Themen, so dass die Software beispielsweise verstehen würde, wenn eine Lernende das Konzept des Zugangs von verkörperten Willenserklärungen verstanden hat, aber das von mündlichen Willenserklärungen noch nicht. Oder dass jemand in einem bestimmten Rechtsgebiet auf dem alten Stand der Rechtsprechung operiert.
Künstliche Intelligenz ermöglicht es zudem, noch individueller als bislang auf Verständnisfragen von Nutzer:innen einzugehen und auch Detailfragen jederzeit zu erläutern und zu vertiefen. KI kann insofern als Tutorin fungieren, die jederzeit und überall verfügbar und in der Lage ist, sofortige und konstruktive Rückmeldungen zu geben. Sie weiß dabei über die spezifischen Stärken und Schwächen einer jeden Lernenden detaillierter Bescheid als es ein menschlicher Tutor könnte.
Im juristischen Bereich setzt die digitale Lernplattform Jurafuchs künstliche Intelligenz (GPT-4) bereits in diesem Sinne ein. Die ersten KI-Anwendungen von Jurafuchs stehen den Lernenden zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung, um juristische Definitionen und Konzepte abzufragen und die Lernenden auf etwaige Fehler oder Ungenauigkeiten in ihren Antworten individuell hinzuweisen. Eine Datengrundlage von über 40 Millionen absolvierten Lernerfahrung bietet Jurafuchs die Basis für weitere KI-gestützte Personalisierungsschritte.
5. Zusammenfassung und Ausblick
Generative KI entwickelt sich rasant entlang einer exponentiellen Kurve. Einiges deutet darauf hin, dass KI uns dazu verhelfen wird, das „2-Sigma-Problem“ von Bloom zu lösen und eine qualitativ hochwertige, personalisierte, effektive und erschwingliche juristische Aus-, Fort- und Weiterbildung in Kanzleien und anderen juristischen Berufen zu ermöglichen, die menschliche Tutor:innen ergänzt. Mit Blick auf die dafür zu lösenden technischen Herausforderungen, das dafür nötige Kapital, Datenschutz und -sicherheit und zahlreiche gesellschaftliche und ethische Fragen ist die Aufgabe fraglos groß und wird auch noch Zeit in Anspruch nehmen.
Zugleich besteht eine reale Gefahr, dass zukünftige Lösungen für juristische Aus-, Weiter- und Fortbildung sich – ebenso wie effektive Lösungen für zahlreiche andere Herausforderungen – sich an KI-Standorten wie dem Silicon Valley zentralisieren. Bei alledem ist das Potenzial enorm. Wenn wir es richtig anpacken und zusammenarbeiten, können wir die Zukunft des juristischen Lernens in Deutschland gestalten und sicherstellen, dass die nächsten Generationen an Jurist:innen befähigt sind, das Rechtssystem, das unsere Gesellschaft prägt, ordnet und befriedet, zu bewahren und weiterzuentwickeln.